Historie und Intension des SEO-Lukas und der SEO-GB-Website
Lange Zeit stand die differenzierte Wahrnehmung und Beschreibung von Verhaltensweisen bei Menschen mit intellektueller und Entwicklungsbehinderung in den Anfängen und wurde durch die klassische psychiatrische Befundung geprägt. Neben der Intelligenzminderung wurden häufig die Diagnosen paranoide oder katatone Schizophrenie gestellt und die Verhaltensweisen, die nicht in die klassische Psychopathologie passten, wurden undifferenziert der Intelligenzminderung zugeschrieben. Begriffe wie Overshadowing, kognitive Desintegration und psychosoziale Maskierung markierten die Situation. Je ausgeprägter die Intelligenzminderung, desto schwieriger war eine diagnostisch zutreffende Zuordnung von Verhaltensweisen.
Patienten mit mittelschwerer bis schwerster Intelligenzminderung wurden entsprechend polypharmazeutisch mit hohen Dosen Neuroleptika behandelt. Die Diagnose eines Autismus wurde bei Erwachsenen mit Intelligenzminderung eher selten gestellt. Gelegentlich entstand die Anmutung, dass bizarres Verhalten, welches umgangssprachlich auch gerne als schizophren bezeichnet wird, Mutter der Diagnosen war. Hinter vorgehaltener Hand wurde ab einer schweren Intelligenzminderung auch in Fachkreisen damals von einem diagnostischen Brei gesprochen.
Bei den Behandlungsteams der St. Lukas-Klinik bestand von Anfang an Konsens darüber, dass die Patienten viel kindlich anmutendes Verhalten zeigen und diesem wurde intuitiv zunächst meist richtig begegnet. Aufgrund des Vorwurfs der Infantilisierung und des Dogmas, dass altersnumerisch erwachsene Menschen mit intellektueller und Entwicklungsbehinderung einen Umgang erfahren sollten, der sich an den Bedürfnissen und Fähigkeiten normentwickelter Menschen orientiert, wurde diese Wahrnehmung aber nicht offiziell verbalisiert. Es bestand sozusagen ein pflegerisches Geheimwissen bezgl. des Umgangs und der Milieugestaltung für diese Patienten, welches sich dem klassisch denkenden Psychiater entzog.
Die Darstellung des SEO-Konzepts durch Prof. Dr. Anton Došen in seinem im Jahre 2010 veröffentlichten Lehrbuch1 eröffnete dann plötzlich neue Horizonte. Zwar hatte er das Konzept bereits 19972 erstmals in Deutsch vorgestellt, dieses Buch fand in der Szene der Behindertenversorgung in Deutschland aber leider kaum Beachtung. In den Niederlanden ist das SEO-Konzept hingegen seit Anfang der 1990er3 Jahre fester Bestandteil des Assessments von Menschen mit intellektueller und Entwicklungsbehinderung.
Auch uns half das Konzept der sozio-emotionalen Entwicklung, das im klinischen Alltag wahrgenommene Verhalten besser zu verstehen und aufgrund dieser Erkenntnis spezifischere Milieugestaltungen vorzunehmen. Dabei wurde bald deutlich, dass es Probleme beim Transfer des in Interviewleitfaden und Auswertungsbogen unterteilten Original-SEOs in unseren klinischen Alltag der Arbeit mit erwachsenen Menschen mit intellektueller und Entwicklungsbehinderung gab. Im ersten Schritt führten wir die beiden Bögen in eine im klinischen Alltag praktikablere Skala zusammen („From scheme to scale“). Im zweiten Schritt machten wir uns daran, die im Original teils sehr auf Kinder zugeschnittenen Items (z. B. „Hat Angst vor dem Töpfchen“) erwachsenengerecht umzuarbeiten. Eine sich wöchentlich treffende multiprofessionelle Arbeitsgruppe unserer Klinik (Krankenpfleger, Heilerziehungspfleger, Heilpädagogen, Ergotherapeuten, Psychologen, Psychiater) benötigte ca. ein Jahr, bis die erste Version (SEO-Lukas 1.0) im Frühjahr 2012 stand.
Schon dieser Entwicklungsprozess, erst recht aber die klinische Arbeit mit dieser ersten Version hatten einen rasanten Anstieg im Verständnis der Verhaltensweisen unserer Patienten zur Folge. Der erwähnte differenzialdiagnostische Brei begann sich zu konturieren. Und mit der wachsenden Erfahrung ließen wir unsere Erkenntnisse in weitere Versionen des SEO-Lukas (Versionen 2.0-3.5) einfließen. Im Verlauf entstand anhand einiger Kasuistiken schließlich das Bedürfnis nach Erarbeitung einer weiteren SEO-Ebene (SEO6), die bereits von Anton Došen erwähnt, aber nicht ausgearbeitet wurde. In der Versionen SEO-Lukas 4.0 finden die Erfahrungen im Umgang mit dieser Ebene ihren ersten expliziten Ausdruck. Doch damit ist die Entwicklung des SEO-Lukas noch nicht am Ende. Aktuell befindet sich die Version SEO-Lukas 5.0 in der Pipeline. In dieser findet die Erfahrung ihren Niederschlag, dass bei der Erhebung des SEOs immer wieder typische Konstellationen voneinander abgegrenzt werden können. Es sei noch nicht zu viel verraten, aber unser Ziel ist es dabei, die Einschätzung des sozio-emotionalen Entwicklungsstandes noch praxisnaher zu gestalten und damit v. a. Psychiatern, die keine Erfahrung mit Menschen mit intellektueller und Entwicklungsbehinderung haben, zugänglicher zu machen.
Eine weitere Innovation, die unsere Arbeit mit dem SEO-Lukas erbrachte, ist die Erhebung raus den Psychologenbüros und rein in die gesamten Teams zu bringen. Erst dadurch konnte sich das Verständnis des Konzepts und der jeweiligen Entwicklungsstände der Patienten im ganzen team durchsetzen. Der Vorteil des von Anton Došen entwickelten Entwicklungsschemas liegt ja gerade im Anknüpfen an einfache Bilder, die jeder Mensch, der Kinder kennt, zuordnen kann. Das heißt wir gingen davon aus, dass auch weniger geschulten Pflegekräften und Behandlungsteams unter entwicklungspsychologisch erfahrener Anleitung eine Erfassung sozio-emotionaler Fähigkeiten möglich und damit auch ein direkt-intuitiver Transfer dieser Erkenntnisse in den Alltag der Milieugestaltung möglich sein sollte. Trotz einiger Widerstände konnte wir diesen Weg erfolgreich beschreiten und heute sind die Begriffe SEO-1 bis SEO-6 fester Bestandteile der Terminologie aller Professionen in der St. Lukas-Klinik. Dadurch nahmen die handlungsrelevanten Anteile klassischer psychiatrischer Diagnostik deutlich ab. Nur die Vorgaben der ICD zwingen uns, weiter psychiatrische Diagnosen zu vergeben.
Last but not least gründeten wir 2015 zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Berlin, den Niederlanden und Belgien unter Mitarbeit von Anton Došen die europäische Arbeitsgruppe NEED (Network of Europeans on Emotional Development), die sich der Entwicklung eines validierten Instruments zur Erhebung des emotionalen Entwicklungsstandes verschrieben hat. Eine erste Skala hierzu wurde 2016 veröffentlicht, der SED-S4. Uns war es dabei erneut besonders wichtig, das der SED-S als common-domain, das heißt für den Nutzer kostenlos, veröffentlicht wurde. Im Verlauf erfolgte dann die Veröffentlichung des SED-S mit begleitendem Manual als SEED5. Die Arbeit zur endgültigen Validierung ist weiter im Gange und mittlerweile finden jährliche Treffen der Arbeitsgruppe mit angeschlossenen Fachtagen statt. Diese finden erfreulicherweise mit zuletzt 300 Besuchern (2018 in Ravensburg) immer mehr Anklang. Das nächste Treffen findet 2019 in Nottingham, England statt. Wir rechnen mit einer endgültig validierten SEO-Fassung im Jahr 2020.
Von Anfang an war es uns wichtig, die Kenntnis um das Konzept des SEO und der Möglichkeiten, den sozio-emotionalen Entwicklungsstand zu erheben, möglichst breit zu streuen. Wir entschieden uns daher ganz bewusst dagegen, unsere Arbeit in irgendwelchen Verlagen zu veröffentlichen. Stattdessen gründeten wir Anfang 2013 das Internet-Forum „SEO-GB“, auf dem wir alle unsere Arbeit kostenlos zum Download zur Verfügung stellten. Damit konnten wir zwar keine „Erstveröffentlichung“ geltend machen und keine Tantiemen beziehen, aber wir verbreiteten die Nachricht in der Hoffnung, dass sie möglichst vielen Menschen mit intellektueller und Entwicklungsbehinderung zu Gute kommt. Die Zahlen geben uns Recht. Mit über 1000 registrierten Nutzern (des ehemaligen Forums) und insgesamt über 10000 Downloads der zur Verfügung gestellten Materialien dürften wir maßgeblichen Anteil daran gehabt haben, dass sich das Konzept der sozio-emotionalen Entwicklung mittlerweile auch in Deutschland herumgesprochen hat.
Leider machte es die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU Ende Mai 2018 notwendig, unsere SEO-GB-Website in der bisherigen Form abzuschalten. Als Forum angelegt, bedurfte die Seite einer Registrierung. Diese ging mit der Speicherung von Email-Adressen einher. Nach der DSGVO wäre der damit verbundene technische und administrative Aufwand für eine quasi gemeinnützige Seite wie unsere, nicht zu leisten gewesen. Daher entschlossen wir uns, SEO-GB vorübergehend vom Netz zu nehmen. Natürlich war aber auch die Neuerstellung von SEO-GB mit einiger Arbeit verbunden. Und da wir das Ganze in unserer Freizeit gestalten und ein Jahrhundert-Sommer dazwischenkam, hat es dann etwas länger gedauert.
Nun steht Ihnen die Seite aber wieder zur Verfügung, incl. der Möglichkeit, unter „Fragen&Antworten“ mittels anonymer Kommentar-Funktion Fragen zum SEO zu stellen und/oder die Fragen anderer User zu beantworten. Sie können dort natürlich auch alle wissen lassen, was Sie vom SEO und/oder unserer Seite halten. Wir hoffen, Sie machen regen Gebrauch davon! Natürlich werden wir auch weiterhin unsere SEO-Versionen und andere Materialien (SEO-Diagnostik, Milieutherapie) online stellen.
Brian Fergus Barrett & Jürgen Kolb
1Došen, A. (2010). Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung: Ein integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene. Göttingen: Hogrefe
2Došen, A. (1997). Störungen bei geistig behinderten Menschen. Stuttgart: G. Fischer
3Došen, A. (1990). Psychische en gedragsstoornissen bij zwakzinnigen. Een ontwikkelingsdynamische benadering. Amsterdam: Boom
4Tanja Sappok, Brian Fergus Barrett, Stijn Vandevelde, Manuel Heinrich, Leen Poppe, Paula Sterkenburg, Jolanda Vonk, Juergen Kolb, Claudia Claes, Thomas Bergmann, Anton Došen, Filip Morisse, (2016). Scale of emotional development – Short. Research in Developmental Disabilities 59 (2016)
5Tanja Sappok, Sabine Zepperitz, Brian Fergus Barrett, Anton Došen. (2018). Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik. Göttingen: Hogrefe